Donnerstag, 3. September 2009

Teis

Peschewa ging langsam den Kiesweg entlang zu dem Haus, das ihr genannt worden war. Der
Garten war völlig verwildert, überall wuchs Unkraut und das Gras war sicher einen halben Meter
hoch. Selbst vor dem Weg hatte das Gestrüpp nicht halt gemacht, zwischen den Steinen sprossen
überall Grashalme. Sie ging vorsichtig, um ihre Stiefel nicht zu beschmutzen. Schließlich stand sie
vor dem Eingang des verwitterten Hauses. Die Tür hing etwas schief in den Angeln, die Scharniere
waren angerostet. Peschewa zog ihre Reithandschuhe aus schwarzem Leder über und schloss mit
spitzen Fingern die Tür auf. Sie bedauerte, dass sie keinen ihrer Diener hierhin mitnehmen konnte,
aber sie wollte weder riskieren, dass der Schatten seine Erinnerung wiedererlangte, noch dass sich
Lorejna in sentimentalen Ausbrüchen erging. Vorsichtig betrat sie das Haus. Alle Möbel waren
säuberlich mit weißen Laken abgedeckt, die wiederum von einer feinen Staubschicht überzogen
waren. Das abendliche Sonnenlicht fiel in breiten Streifen durch die Fensterläden und tauchte den
Raum in sein goldenes Licht. Sie zog mit den Fingerspitzen ein paar der Laken leicht zur Seite. Die
Schränke waren leer. Sie suchte weiter, vielleicht war ja irgendetwas vergessen worden. Schließlich
entdeckte sie eine kleine hölzerne Kiste in der untersten Schublade einer Kommode. Sie zog sie
vorsichtig heraus und sah sich weiter um, sonst war allerdings nichts mehr zu finden. Etwas
enttäuscht verließ sie das Haus wieder und schloss die Tür sorgfältig ab. Eigentlich hatte sie sich
mehr erhofft. Ohne sich umzudrehen ging sie den Kiesweg zurück zum Gartentor, band ihren
pechschwarzen Rappen los, schwang sich in den Sattel und galoppierte davon.
Am selben Tag, morgens, als es noch dunkel war, hatte Pescheva das besagte Haus betreten. Es war
unübersehbar, dass seit dem Tod der Besitzer niemand hier gewesen war. Sie hatten ihr Heim nur
für eine kurze Reise verlassen wollen und waren nie wiedergekehrt. Überall lagen Bücher, Kleider,
Schmuck, Geschirr und alle möglichen weiteren Gegenstände herum. Pescheva seufzte, das
bedeutete einiges an Arbeit. Sie hob ihre schmale Hand schloss die Augen und konzentrierte sich.
Dunkle Schatten zogen aus dem Boden herauf und wirbelten um sie herum, bis sie fast komplett in
schwarzen Nebel eingeschlossen war. Schweißperlen traten auf ihre Stirn, doch sie kniff die Lippen
zusammen und konzentrierte sich noch fester. Die Möbel mussten unangetastet bleiben, die
beweglichen Gegenstände dagegen...Sie öffnete die Augen und streckte den Arm aus. Mit dem
Zeigefinger zielte sie auf einen Gegenstand nach dem anderen – worauf auch immer sie sich
konzentrierte, es zerfiel augenblicklich zu Staub. Nach einigen Minuten war sie schweißgebadet,
doch sie konnte nicht aufhören, es musste erledigt werden! Sie biss die Zähne zusammen und
konzentrierte sich weiter. Nur ein kleines Holzkästchen ließ sie unversehrt und legte es vorsichtig in
die unterste Schublade einer Kommode. Erschöpft ließ sie sich in einen Sessel fallen und schloss
die Augen. Es war noch nicht beendet, aber der schwerste Teil lag hinter ihr. Sie trank einen
Schluck klaren Quellwassers aus ihrem Schlauch und erhob sich seufzend wieder. Schließlich griff
sie nach dem großen Reisesack, den sie mitgebracht hatte, holte einen großen Stapel weißer Laken
hinaus und begann, die Möbel abzuhängen. Nun noch der Feinschliff..Sie stelle sich in die Mitte
des Raumes, hob beide Hände und murmelte etwas. Der gesamte Staub, der sich durch die
Zerstörung der Gegenstände angesammelt hatte flog auf sie zu, wirbelte kurz um sie herum, strebte
wieder von ihr weg und verteilte sich fein auf den Laken. Sie nickte zufrieden. Zu dieser Zeit war sie
noch nicht erfahren genug gewesen, um den Unterschied von diesem zu normalem Staub zu
erkennen. Lächelnd verließ sie das Haus. Ihre Arbeit für heute war getan und sie brauchte dringend
eine warme Mahlzeit und ein Bett.
Kaum daheim angekommen, wechselte Peschewa ihr staubiges Kleid gegen einen bequemen,
seidenen Morgenmantel, setzte sich in ihren Lieblingssessel und begann den Inhalt der Kiste zu
durchforsten. Als ersten fielen ihr einige Familienbilder ins Auge, durchaus von geübter Hand
gezeichnet. Man sah stets einen hochgewachsenen, etwas finster aussehen Mann mit schwarzen
Haaren, eine freundlich lächelnde, zierliche Brünette und ein kleines Baby, das sie auf dem Arm
hielt. Auf der Rückseite der obersten Zeichnung war einer kleine Notiz zu finden:
„Ich hoffe, Ihr seid mit den Zeichnungen zufrieden, werter Herr Brodon. Der kleine Theodus ist
wirklich gut gelungen, findet Ihr nicht? Auch Eure Gattin sieht ganz bezaubernd aus. Ich hoffe, wir
können bald den zweiten Termin finden, um ein paar Zeichnungen nur von Eurem kleinen
Stammhalter anzufertigen. Es verbleibt, mit besten Grüßen – Regalus von Niederau, Zeichner und
Porträtmaler“
Peschewa wühlte weiter, ein paar Quittungen für Babykleidung legte sie achtlos beiseite, ebenso
diverse blaue Bänder und Schleifen. Schließlich fand sie ein vergilbtes, gefaltetes Pergament.
Vorsichtig, um es nicht zu beschädigen, klappte sie es auseinander. Es war eine Geburtsurkunde:
Theodus Jonathan Bronn – Sohn von Jonathan Elias Bronn und Amalia Bronn, geborene Anberg.
Sie legte sie vorsichtig zu den Zeichnungen. Jetzt befand sich nur noch ein alter, recht
unscheinbarer Brief in dem Kästchen. Voller Ungeduld entfaltete sie ihn, der Rest war eher
nichtssagend für sie gewesen.
„Sehr geehrter Herr Brodon,
wir freuen uns, Euch mitteilen zu können, dass Euer Sohn Theodus, ab nächsten Monat unsere
Schule besuchen kann. Eine Ausstattungsliste findet Ihr auf der Rückseite dieses Briefes.
Denkt bitte auch daran, die monatliche Gebühr von 100 Goldstücken stets pünktlich zu unseren
Händen bei der Bank von Sturmwind einzuzahlen.
Wir erwarten Theodus gespannt und hoffen, dass er sich gut bei uns entwickelt. Eurer Anfrage, ob
er auch den Großteil der Ferien im Institut verbringen kann, wurde stattgegeben, sodass den
Weltreisen mit Eurer werten Gattin nichts im Wege steht.
Das Licht sei mit Euch
Hochachtungsvoll
Theresa Sophia von Lehenberg, Leiterin der Klosterschule zu Seenhain“
Peschewa ließ den Brief sinken und legte ihn zu den anderen wichtigen Dokumenten. Sie steckte
die Geburtsurkunde, die Bilder und den Brief vorsichtig ein, legte die unwichtigen Rechnungen und
den Rest zurück in das Holzkästchen und warf es ins Feuer. Die Schule existierte nicht mehr, aber
es gab sicher noch ein paar alte Lehrer, die man befragen konnte oder Unterlagen. Sie wollte mehr
über ihn wissen, was mit ihm geschehen war, wollte seinen Geist erforschen, verstehen, warum er
so war. Sie war schon immer extrem wissbegierig gewesen. Für diesen Tag wollte sie es aber gut
sein lassen und sich ins Bett begeben, als es plötzlich klopfte...
Der kleine Junge umklammerte fest die Hand seiner Mutter und betrachtete ängstlich die
hohen Mauern, die das vornehme Gebäude umgaben. Er war vielleicht acht Jahre alt.
Sein schwarzes Haar war ordentlich gescheitelt, er trug eine saubere, dunkle lange Hose,
ein weißes Hemd und schwarze Lederschuhe.
„Nehmt mich wieder mit, bitte Mama“, flüsterte er der Frau neben ihm zu. Sie trug ein
langes, elegantes Reisekleid und einen übertriebenen Hut mit Blütengarnierung. Ihr
Gesichtsausdruck war hochnäsig und hart, als sie auf den kleinen Jungen herabblickte.
„Du weißt, dass das nicht geht, Teis. Wir müssen verreisen. Mach uns keine Schande“,
antwortete sie kühl und berührte flüchtig seine Stirn mit den Lippen. Sie zog ein Bonbon
aus ihrem Täschchen und reichte es ihm. Nun war die Familie am Tor angekommen. Der
Vater, ein hochgewachsener Mann mit den gleichen schwarzen Haaren wie sein Sohn
blickte, wie immer, etwas finster. Er drehte sich zu dem Kind um, hob den Zeigefinger und
wies ihn zurecht: „Theodus, ich will kein Wort mehr hören. Das ist eine der besten Schulen
in der Umgebung, du kannst stolz sein, sie zu besuchen! Lerne fleißig, dann wird sicher
etwas aus dir werden.“
Theodus, oder Teis, wie er lieber genannt wurde, ließ den Kopf hängen und nickte. Er
wäre so gerne bei ihrer langen Reise dabei gewesen, anstatt eine Klosterschule in einem
langweiligen Ort zu besuchen. Er seufzte leise und blickte auf den schmalen, hübsch
bepflanzten Weg hinter dem Tor. Dies sollte also ab jetzt sein zu Hause sein. Nach einigen
Minuten sah er eine kleine korpulente Frau, die sich vom Haupthaus aus schnell näherte.
Sie trug ein altmodisches schwarzes Kleid und wandte sich mit einem Lächeln an eine
Eltern, das nicht bis zu den Augen reichte. Er betrachtete sie missmutig, mit dieser Frau
würde er wohl nicht warm werden. Sie wirkte unterkühlt und arrogant.
„Frau von Lehenberg“, sein Vater verbeugte sich übertrieben, „schön Euch
wiederzusehen!“
Die Dame lächelte knapp und betrachtete Teis durchdringend..
„Das ist also der kleine Unruhestifter? Wir werden ihn schon zur Räson bringen!“
Teis kroch ängstlich weiter hinter den Rock seine Mutter. Der Vater packte ihn bei der
Schulter und zog ihn nach vorne.
„Nur nicht so schüchtern, Theodus! Komm her und begrüße Frau von Lehenberg, die
Schulleiterin hier.“
Teis verbeugte sich unsicher und starrte auf den Boden.
Zehn unglückliche Jahre würde er hier verbringen, mit falschen Freunden und immer
würde die Frage an ihm nagen, warum seine Eltern nicht wollten, dass er heimkam. Bis zu
dem Tag, an dem sie nie wieder heimkehren werden würden...
Teis öffnete verwirrt die Augen und starrte ins Dunkle. Er? Der kleine Junge? Er überlegte
angestrengt, doch der Traum begann schon zu entschwinden. Welcher kleiner Junge? Wer war er?
Er streckte die Hand aus, bis er Lorejna berühren konnte, die neben ihm lag. Er ließ zärtlich die
Hand durch ihr Haar gleiten. Wenigstens wusste er ihren Namen noch. Er entzündete eine Kerze,
stelle sie vorsichtig neben das Bett und schüttelte dann seine Geliebte an der Schulter. „Lorejna,
wach auf, bitte!“ flüsterte er. Sie murmelte etwas, wälzte sich ein wenig und schlug schließlich die
Augen auf. Verschlafen sah sie ihn an. „Was ist denn?“, flüsterte sie und setzte sich auf.
„Ich habe wieder...geträumt“, stammelte er, „alles war so real, als wäre es ich. Aber jetzt ist schon
wieder alles weg.“ Traurig blickte er sie an. „Glaubst du es war aus meinem Leben?“
„Bestimmt nicht“, murmelte sie ihn beschwichtigend. Sie drückte ihn sanft nach unten auf die
Matratze, schmiegte sich an ihn und drückte das Medaillon, dass sie ihm einst gegeben hatte gegen
seine Brust. „Das ist alles was zählt, denk daran“, flüsterte sie eindringlich. Sie ließ die Hand
zärtlich über seinen Oberkörper gleiten und bedeckte ihn mit Küssen. „Schlaf wieder“, säuselte sie
in sein Ohr und überschüttete ihn weiter mit Liebkosungen, bis er eingeschlafen war. Als er fest
schlummerte, nahm sie vorsichtig die Kerze und verließ das Bett. Gedankenverloren setzte sie sich
auf den Boden vor den Kamin, in dem noch die letzten Holzscheite glühten. Sie hätte zu gerne
erfahren, was er geträumt hatte, sie war sich sicher, dass es aus seinem eigenen Leben war. Leider
vergaß er es immer sofort. Sie hoffte, dass es keine andere gab, die jetzt vergessen dasaß und um
ihn weinte. Trotzdem wollte sie es wissen, auch wenn es dieses Risiko gab. Sie wollte, wie jedes
normale Mädchen seinen Eltern vorgestellt werden und ihn...ihre Gedanken stockten. Sie waren
gleichauf. Er wusste nicht mehr, wer er war und wer seine Eltern waren, sie war für ihren Vater
praktisch tot. Traurig betrachtete sie ihren schlafenden Geliebten, den sie nichtmal mit seinem
Namen ansprechen durfte. Eigentlich durfte sie diesen Namen nichtmal denken, aber dies zu
verhindern empfand sie als außerhalb ihrer Macht. Sie stand langsam auf, löschte die Kerze und
verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Durch die Tür neben ihrer eigenen drang ein Lichtschimmer
auf den Flur, Peschewa war also noch wach. Vorsichtig klopfte sie.
„Komm rein“, murmelte es von drinnen. Sie drückte die Türklinke nach unten, öffnete die Tür einen
Spalt weit und schlüpfte hindurch. Peschewa stand in ihrem Morgenmantel vor dem Schrank und
verstaute gerade ein paar Rollen Pergament. Lorejna lächelte leicht. Entweder hatte sie wieder
Liebesbriefe erhalten, oder studierte um diese Zeit noch. „Lorejna, was treibt dich her?“, unterbrach
Peschewa ihre Gedanken ungeduldig. „Ich wollte gerade schlafen gehen!“
„Er hat wieder geträumt“, entgegnete sie, „ich mache mir Sorgen. Er hat es gleich wieder vergessen.
Gibt es keine Möglichkeit herauszufinden, was in seiner Vergangenheit liegt? Ich wüsste es zu
gerne. Wenn er davon träumt, muss er ja irgendwo noch die Erinnerung haben.“
Peschewa schüttelte den Kopf. „Ich wüsste keinen“, antwortete sie abweisend. „Geh wieder
schlafen. Du weißt nichtmal, ob es wirklich aus seinem Leben war. Lenke ihn ab, mach ihn
glücklich, damit hilfst du ihm am besten.“ Lorejna sah sie etwas enttäuscht an, drehte sich um und
machte Anstalten, sich zu entfernen. „Wenn ich einen Weg finde, lasse ich es dich wissen“, sagte
Peschewa leise. Lorejna wendete sich wieder ihr zu und lächelte sie dankbar an. „Ich hoffe, dass das
einiges Tages passieren wird“, flüsterte sie und verließ das Zimmer.
Am nächsten Morgen, wieder bevor die Sonne am Horizont erschien, erhob sich Pescheva und
verließ ungesehen ihre Unterkunft. Zielstrebig ging sie die Straßen Sturmwinds entlang, über eine
der steinernen Brücken am Kanal, bis in die Altstadt. Vor einem kleinen, unscheinbaren Häuschen
blieb sie stehen. Sie klopfte kurz an die dunkel lackierte Tür und trat dann sofort ein. Die Tür war
unverschlossen. Lautlos schlich sie die Treppe hinauf, bis sie an der Schlafzimmertür angelangt
war. Sie drückte die Klinke der Zimmertür nach unten und schob sie wie in Zeitlupe auf, um ihn
nicht zu wecken. Der alte Mann lag friedlich in seinem Bett und schlief. Pescheva trat mit einem
schnellen Schritt zu ihm, hob die rechte Hand und murmelte ein paar Worte. Aus ihren
Fingerspitzen schienen leuchtende, violette Linien zu fließen, direkt auf den Kopf des alten Mannes
zu. Sie drangen in ihn ein, kurz schien es, als würde er aufwachen. In dem Moment hob sie kurz
auch die linke Hand und machte eine knappe Geste. Er schlief weiter, als wenn nichts um ihn herum
geschehen würde. Pescheva machte leichte Bewegungen mit der rechten Hand, die Linien bewegten
sich sanft mit ihr. Es schien, als würde etwas an ihnen entlang, von ihm zu ihr fließen. Schließlich
war sie zufrieden. Die Erinnerungen an Lucille und Teis waren verschwunden. Lautlos entfernte sie
sich wieder, verließ das Haus und ging ihren Weg fort, Richtung Goldhain zu Felix Warn. Auch hier
würden ein paar Erinnerungen verschwinden müssen. Sie dachte an das, was ihr Dorormi gezeigt
hatte – was passieren würde, wenn sie nicht einschreiten würde und beschleunigte ihre Schritte...
Peschewa erwachte an diesem Morgen zeitig. Sie kleidete sich rasch an und verließ sofort das Haus.
Sie wollte keine Zeit verlieren. Zielstrebig schlug sie die Straße zum Rathaus der Stadt ein. Die Tür
war bereits offen und ein Beamter anwesend. Sie nickte zufrieden und trat ein.
„Seid gegrüßt“, sie neigte leicht den Kopf, „ich suche Unterlagen über die alte Klosterschule in
Seenhain. Vielleicht gibt es noch alte Lehrer, die hier in der Nähe wohnen, Klassenlisten oder
Ähnliches?“ Sie blickte ihn erwartungsvoll an. Ihr Gegenüber schien leicht überfordert und sah sie
einen Moment verwirrt an. Dann murmelte er etwas, sie konnte geradeso verstehen, dass er tun
wollte, was er könne und schlurfte ins Nebenzimmer. Nach einiger Zeit kam er endlich zurück,
Peschewa trat ungeduldig einen Schritt auf ihn zu. „Und, habt Ihr etwas?“ „Alles verbrannt, alles
verbrannt“, murmelte er. „Das große Feuer in der Schule hat nicht viel übrig gelassen.Aber Ihr habt
Glück! Am Kathedralenplatz wohnt ein alter Herr, der dort einst unterrichtete: Matthew Ostberg.
Vielleicht kann er Euch weiterhelfen.“ Peschewa nickte ihm kurz zu und verließ das Rathaus so
eilig, wie sie es betreten hatte. Die Neugier hatte sie gepackt, sie wollte wissen, einfach wissen, er
sollte ihr alles verraten. Ihre Augen verdunkelten sich leicht und nahmen einen gierigen Zug an. Sie
wollte alles auf dieser Welt erforschen, die Menschen, die dunkle Macht, einfach nur – wissen. Kurz
ergab sie sich diesem Rausch, der Vision von abertausenden Pergamenten um sich herum, die ihr
alles Wissen dieser Welt verraten sollten.
Peschewa stockte, lehnte sich gegen die Rathausmauer und schloss die Augen. Leise begann sie, bis
zehn zu zählen, um sich zu beruhigen. Solche Gedanken waren für die Zurückgezogenheit ihrer
Schlafstube, mitten in der Stadt musste sie sich derartiges verbieten. Sie setzte ihren Weg fort und
nach einer Viertelstunde hatte sie ihr Ziel schon erreicht. Sie zog ihre Handschuhe aus und klopfte
an die dunkel lackierte Tür. Als sich nichts regte, klopfte sie noch einmal, diesmal fester.
Schließlich hörte sie eine leise Stimme von innen: „Ich bin unterwegs!“
Die Tür öffnete sich einen Spalt weit, innen sah sie einen alten Mann in einem abgetragenen Anzug,
der sie misstrauisch musterte. „Ich brauche nichts, ich kaufe nichts, was wollt Ihr?“, schleuderte er
ihr entgegen. Peschewa konnte in Lächeln kaum unterdrücken. „Eigentlich bin ich nur auf der
Suche nach Informationen, über die Schule, an der Ihr einst unterrichtetet Matthew Ostberg. Ich bin
Pan Min, eine Schneiderin.“, engtegnete sie ruhig. „Wieso?“, seine Augen schätzten sie ab, er
schien verblüfft zu sein. „Ich bin...nun...es geht um einen bestimmten Schüler“, fuhr sie fort, „es ist
ein Freund von mir und ich möchte ihm helfen. Aber dafür muss ich wissen, was ihm wiederfahren
ist.“ Ihre Stimme wurde zunehmend sicherer und sie sah dem Alten direkt in die Augen. „Nun gut,
kommt herein“, entgegnete er nach einigen Sekunden der Stille. Er führte sie ins Wohnzimmer und
deutete auf einen Sessel. Er nahm ihr gegenüber Platz, stopfte eine Pfeife mit billigem Tabak und
sah sie erwartungsvoll an. „Also, um wen geht es?“
„Teis, ich meine Theodus Brodon. Erzählt mir einfach alles, was Ihr über ihn noch wisst“, bat sie.
Er nickte leicht, seine Augen nahmen einen leicht wehmütigen Zug an.
„Der kleine Teis also“, er nickte und fuhr fort: „Als er zu uns kam, war er gerade mal acht Jahre alt,
eigentlich ziemlich jung. Seine Eltern wollten wohl lieber um die Welt reisen und empfanden ihn
als lästig, zumindest fühlte er es so. Er war nicht glücklich bei uns und geriet bald an die falschen
Leute. Er hatte da zwei Freunde, etwas älter als er. Ich weiß den Namen des einen nicht mehr, aber
der andere war Felix Warn.“ Peschewa nickte, diesen Namen kannte sie. Er lebte in Goldhain, ein
kleiner Gauner, bekannt dafür, einem alles zu besorgen, was man eben brauchte.
„Die drei zusammen hatten nur Unsinn im Kopf. Es gibt wohl keinen Streich, den sie nicht gespielt
haben. Als sie Kinder waren, mag das noch harmlos gewesen sein, aber später...“, er schüttelte
verwirrt den Kopf. Leise sprach er weiter. „Ich weiß es nicht mehr genau, ich werde wohl alt.
Jedenfalls war er oft traurig, wegen seinen Eltern und sprach immer davon, wie stark und
unabhängig er doch wäre. Mit 18 verließ er uns dann, nach dem Skandal um...“ Die Augen des alten
Mannes blickten plötzlich trübe. Er dachte angestrengt nach und bewegte den Kopf dabei ruckartig
nach vorne. „Ich weiß es einfach nicht mehr“ Seine Augen wanderten zu Peschewa, er sah sie
hilflos an. „Es tut mir leid werte Dame, vielleicht fragt Ihr lieber jemand anderen“ Er fühlte sich
sichtlich unwohl und rutschte auf seinem Sessel hin und her. Peschewa seufzte innerlich, sah ihn
aber begütigend an. Sie neigte leicht den Kopf und erhob sich. „Ich danke Euch, das hat mir schon
sehr weitergeholfen. Lebt wohl, Matthew Ostberg.“ Sie rauschte aus dem Zimmer und verließ das
Haus. Er blickte ihr hinterher und schüttelte leicht verwirrt den Kopf. „Das muss ich wohl...nicht
verstehen...“, murmelte er und zündete seine Pfeife an.
Peschewa schlug den Weg nach Hause ein, nach Goldhain wollte sie lieber reiten. Daheim
angekommen wechselte sie ihre Robe gegen die bequeme Reitkleidung, holte ihren Rappen aus dem
Stall und machte sich dann unverzüglich auf den Weg. Felix Warn war also ein Freund von ihm
gewesen. Sie fragte sich, wer wohl der dritte im Bunde gewesen war. In Gedanken versunken trieb
sie ihr Pferd zum Galopp an und ehe sie sich versah, war sie schon in Goldhain angelangt. Sie band
das Ross lose vor dem Gasthaus fest und sah sich um. Wie immer herrschte geschäftiges Treiben.
Wo er wohl war? Sie beschloss, erst einmal ins Gasthaus zu gehen und eine Kleinigkeit zu sich zu
nehmen. Kurz nachdem sie sich an den Tisch gesetzt und der Wirt ihr Essen gebracht hatte, kam
eine verschlafene Gestalt in einer geflickten Hose und zerschlissenem Hemd zu Tür herein.
Peschewa traute ihren Augen kaum, es war tatsächlich Felix Warn. Er nickte dem Wirt kurz zu und
die beiden verschwanden in der Küche. Nach einigen Minuten kam Felix wieder heraus, er grinste
zufrieden und spielte mit einem kleinen Geldbeutel. Das Klimpern der Münzen war kaum zu
überhören. Als er vorbeiging, sah sie kurz zu ihm hoch und flüsterte „Ihr seid vielleicht gerade
beschäftigt, Herr Warn, aber hättet Ihr doch kurz Zeit für mich? Es würde sich auf jeden Fall
lohnen...“ Er blieb stehen und musterte sie unverhohlen. „Was willste?“, fragte er sie in breitem
Dialekt. Peschewa bat ihn ruhig, sich zu setzen. „Ich brauche Informationen, über jemanden, den ihr
kennt. Ich bezahle auch!“ „Und über wen? Das kann schon teuer werden!“ „Es geht um Theodus
Brodon, ihr kennt ihn wohl als Teis...erzählt mir alles, was Ihr wisst.“ Sie schob ihm ein Säckchen
mit 50 Goldmünzen herüber. „Ich denke das ist eine gute Bezahlung dafür oder?“ Er grinste sie
schief an und zählte die Münzen. Auf seinem Gesicht breitete sich ein dreckiges Lächeln aus. „Ah
bist wohl sein Liebchen, was? Willst ihm wohl hinterherschnüffeln, weil er nich drüber spricht.
Naja mir solls Recht sein, ihr Frauenzimmer erfahrt es sowieso...da kann sich der Felix auch ein
gutes Gold verdienen.“ Er nickte wie zur Bestätigung und steckte das Geld ein. „Also kennen
gelernt haben wir uns in der Schule. Waren gute Freunde, also er und ich und noch der gute Arthur.
Kennste Arthur? Arthur Stern, der ist jetzt anständig geworden“, er spuckte auf den Boden. „Hat
jetzt 'n Geschäft aufgemacht in Sturmwind.“ Peschewa nickte und sah ihn leicht angewidert an.
Arthur Stern war ein angesehener Kaufmann, hätte sie den Namen gleich gewusst, wäre sie
sicherlich dorthin gegangen, anstatt zu Felix Warn. Felix nahm sich ein Stück Brot vom Tisch, biss
kräftig hinein und fuhr schmatzend fort: „Jedenfalls ham wir viel Unsinn gemacht. War aber lustig
die Zeit. Naja, als die Frauengeschichten anfingen, war's am besten, aber die Sache mit der Lucille
war dann vielleicht doch 'ne Nummer zu krass. Jedenfalls wurde er rausgeschmissen.“ Peschewa
neigte sich interessiert nach vorne. „Welche Lucille? Was ist genau passiert?“ Er zögerte kurz.
„Naja genau weiß ich's nicht, ich war ja nicht mehr auf der Schule dann. Aber angeblich ist er
wegen ihr rausgeflogen. Arthur hat's aber miterlebt, der kann's dir bestimmt genau sagen. Aber
eigentlich glaub ich du willst das gar nicht wissen Liebchen.“, er wendete den Blick ab. Peschewas
Augen funkelten zornig, der Mann hatte keinerlei Respekt. Außerdem log er, er wusste mehr. Da sie
kein Aufsehen erregen wollte, beließ sie es dabei und machte ihm ein Zeichen, sich zu entfernen.
Das Gespräch mit Arthur Stern würde sicher angenehmer verlaufen, aber das musste noch bis
morgen warten. Gemütlich verließ sie, nachdem sie fertig gegessen hatte das Gasthaus und ritt
wieder nach Hause, um ihren täglichen Geschäften nachzugehen.
Pescheva saß auf einem Teppich vor dem Kamin und stocherte im Feuer herum. Die Sonne war
schon lange untergegangen, doch sie fand keinen Schlaf. Sie vermisste ihren Geliebten und hoffte,
bald die Heimreise antreten zu können. Unwillkürlich musste sie an die Begegnung mit Dorormi
denken, die Bilder, die sie gesehen hatte. Sie schloss die Augen und sah alles noch einmal an sich
vorbeiziehen. Sie sah Lorejna mit einer roten Rose an einem Krater stehen. Sie trug ein schwarzes
Kleid und sah so...alt aus. An ihrer Hand ging ein kleines, vielleicht fünf Jahre altes Mädchen,
ebenfalls mit einer roten Rose in der Hand. Lorejna wandte sich zu ihrer Tochter, man sah sie
sprechen. Sie beugte sich zu der Kleinen herunter und küsste sie auf die Stirn. Dann schlossen
beide die Augen, standen kurz unbeweglich da und warfen die Blumen in den Krater. Als sie sich
zum Gehen wandten, sah Pescheva ihr Gesicht. Als sie diese Bilder das erste Mal gesehen hatte,
hatte sie der Ausdruck noch erschrocken. So verhärmt, voller Schmerz war dieses Gesicht gewesen.
Mittlerweile erfüllte es sie mit Traurigkeit, aber auch mit Tatkraft. Sie hatte die Macht, das zu
verhindern und sie hatte alle notwendigen Schritte in den letzten Tagen eingeleitet. Lucille würde
niemals...sie schüttelte sich, was Dorormi erzählt hatte, war wie ein Schlag gewesen. Lucille war
nach dem Erlebnis mit Teis abgestürzt, ihre Eltern hatten sie verstoßen. Sie hatte die dunkle Macht
in sich entdeckt und mehr oder minder unkontrolliert damit experimentiert. In diesem Zustand war
sie von Pescheva entdeckt und als Novizin angenommen worden. Einige Jahre ging alles gut, bis zu
dem einen Tag. Aus irgendeinem Grund war sie vollkommen durchgedreht, hatte von Wahnsinn
erfüllt das Haus verlassen und irrte dann ziellos umher. In dieser schicksalsschweren Stunde war
sie zu dem Platz gekommen, an dem Teis gerade stand und etwas Feuerholz hackte. In grausamer
Wut entfesselte sie all ihre Macht in einem Schlag – der Krater war das Ergebnis. Alles Leben im
Umkreis von zehn Metern war ausgelöscht und auch noch ein Jahr danach wollte nichtmal ein
Pflänzchen wachsen. Jede Rose, die Lorejna und das Kind hineinwarfen, zerfiel sofort zu Staub.
Pescheva schluckte, als sie an den Krater dachte. Nicht nur Teis hatte hier gestanden. Ihr
Geliebter...eine Träne rollte über ihre Wange. Er hatte gerade ein paar Scheite aufgenommen, um
sie ihr zu bringen. Er hatte ein Kaminfeuer machen wollen, weil ihre Füße so kalt waren, das hatte
Dorormi erzählt. Danach hatte sie sich selbst gesehen - grauhaarig, kalt, unglücklich. Ihre eigenen
Schmerzen, Lorejnas Kummer, die Einsamkeit – all das konnte sie in den eigenen Augen lesen, die
sie traurig anstarrten. Sie waren pechschwarz gewesen, so schwarz, dass sich nichtmal der
Lichtschein der Kerze darin gespiegelt hatte. Das Licht schien vollkommen verschluckt zu werden.
In diesem Zustand hatte sie sich an Dorormi gewandt, so erzählte es die Drachendame. Sie hatte
um eine Möglichkeit gebeten, das ungeschehen zu machen. Da Dorormi und die anderen Drachen
das fürchteten, was geschehen könnte, wenn der Schmerz sie weiter so auffressen würde, hatten sie
letztlich zugestimmt. Dorormi, mit der Übersicht über alle Zeitlinien hatte einen Plan zurechtgelegt
und so war sie in die Vergangenheit gereist, um ein paar Erinnerungen zu löschen. Nun würde sie
Lucille erst finden, wenn es zu spät war und das alles würde nie passieren. Da es in ihrer Realität
nie stattfand, sie hatte ja eingegriffen, wusste sie natürlich nichts davon. Dorormi aber, würde in
jeder Dimension zu ihr kommen, ihr die Bilder zeigen und sie auf die Reise schicken...
Am Mittag des nächsten Tages, als die Sonne am höchsten stand und die Menschen Sturmwinds
träge in ihren Sesseln saßen, machte Peschewa sich schließlich auf. Ihr Ziel war das Geschäft von
Arthur Stern. Es lag in der besten Straße, in der Nähe der Kathedrale. Sie trat ein, nahm den Hut
vom Kopf und streifte ihre Handschuhe ab. Sofort eilte eine junge Frau auf sie zu und fragte nach
ihren Wünschen. Sie musterte die Angestellte und fragte nach einer Möglichkeit, Arthur Stern zu
treffen. Diese nickte eifrig. „In welcher Angelegenheit, gnädige Frau?“, fragte sie. „Privat“,
antwortete Peschewa knapp. Sie schaute leicht eingeschüchtert und verschwand im hinteren Teil des
Hauses. Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück, einen etwa dreißigjährigen, edel gekleideten
Herren im Schlepptau. Arthur Stern musterte sie neugierig und verbeugte sich lächelnd. „Was kann
ich für Euch tun, Teuerste?“ Peschewa sah sich kurz um, sie waren allein. Sie trat einen Schritt auf
ihn zu und senkte die Stimme. „Es geht um jemanden, den ihr vor ein paar Jahren kanntet –
Theodus Brodon, Teis“, sie flüsterte fast. Sein Gesicht nahm einen sehr ernsten Ausdruck an. „Bitte
folgt mir“, bat er sie. „Lasst uns das in Ruhe besprechen.“ Zufrieden ging sie hinter ihm her. Er
führte sie in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer, bedeutete ihr Platz zu nehmen und bot ihr
ein Glas Wein an.
„Teis also...“, hub er an. „Darf ich zuerst wissen, wer Ihr überhaupt seid und warum Ihr nach ihm
fragt...und auch, wie Ihr auf mich kommt?“
Sie nickte lächelnd. „Sicher doch. Mein Name ist Pan Min, Händlerin für Mode und Zubehör. Ich
bin eine Freundin und er hat wohl sein Gedächtnis verloren. Ich versuche ihm zu helfen. Euren
Namen habe ich von einem alten Lehrer“
Er nickte knapp und lächelte gequält. „Edel von Euch, aber diese Erinnerungen will er nicht
wiederhaben“, er hielt kurz inne. „Wir waren zusammen auf der Schule in Seenhain, mittlerweile
gibt es sie ja nicht mehr. Wir waren schlechte Kerle und haben viel angestellt.“ Gedankenverloren
trat er zum Fenster und sah traurig hinaus. „Vor acht Jahren, da war er 18, wurde er hinaus
geworfen. Ich ging kurze Zeit später, ich konnte nicht mehr dort bleiben. Ich war genauso Schuld,
wie er. Wir waren lebensfrohe junge Männer und ließen kein Abenteuer aus.“ Er stockte kurz und
sah sie an. „Es tut mir leid, wenn ich die Ohren einer Dame beleidige, aber Ihr wolltet die
Geschichte hören. Wir waren also jung und leidenschaftlich und hatten unseren Spaß mit den
Mädchen. Es gab die eine...ihr Name war Lucille Theresa von Lehenberg, die Tochter unserer
Schulleiterin. Sie war ein gutes, reines Mädchen und stand kurz vor der Aufnahme in die Abtei zu
Nordhain. Ihre Novizinnen Robe war schon geschneidert und ihre Mutter war furchtbar stolz, dass
ihre Tochter eine Priesterin werden würde. Wir...“, er stockte, in seinen Augen standen Mitleid und
Reue. „Wir hatten keinen Respekt.“, fuhr er mit zitternder Stimme fort. „Wir...wetteten. Wir
versuchten beide sie zu verführen...“ Er drehte sich zu Peschewa um und sah ihr direkt in die
Augen. „Nun, kurz gesagt, Teis war erfolgreich. Sie wurde schwanger und musste ihren Eltern
natürlich alles beichten. Ihre Familie war außer sich und warfen ihn natürlich sofort von der Schule.
Seine Eltern lebten zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr, sie waren zwei Jahre früher gestorben.
Soweit ich weiß, tauchte er erstmal unter, da er natürlich Angst vor ihrer Familie hatte. Sie wurde
verstoßen und wäre wohl im Bordell gelandet, hätte sich nicht eine alte, fast mittellose Tante ihrer
erbarmt und sie aufgenommen. Leider starb diese gute Frau, kurz bevor das Kind geboren wurde.
Es war tot bei der Geburt...“, seine Stimme war tonlos, als er davon erzählte. „Sie wurde fast
wahnsinnig vor Schmerz, sie hatte gar nichts mehr. So habe ich sie dann wieder gefunden. - Da
meine Geschäfte gut laufen und ich mich ebenso schuldig fühle, komme ich seitdem für sie auf. So
verhungert sie nicht, aber das reicht nicht. Sie bräuchte einen wirklichen Freund, dem sie vertraut.
Jedenfalls entdeckte sie in ihrem Zustand...nun...eine dunkle Seite.“, er sah sie prüfend an, schätze
ihre Reaktion ab. Sie nickte wissend. „Sie ist also eine Hexenmeisterin?“ „Nun von Meisterin ist sie
wohl weit entfernt“, antwortete er bitter. Ihre Versuche werden sie noch umbringen, sie ist nicht
gerade vorsichtig. Aber sie lässt sich nicht davon abhalten.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern und
sah sie fragend an. „Vielleicht könnt Ihr helfen? Da Ihr ihn kennt, könntet Ihr beide wieder
zusammen bringen. Das würde sie vielleicht glücklich machen.“ „Nein“, entgegnete Peschewa hart,
„aber vielleicht kann ich sie unterrichten. Dann wird sie sich selbst keinen Schaden mehr zufügen.“
Arthur Stern nickte. „Ich wäre Euch überaus dankbar, gnädige Frau. Ich bin froh, wenn sie in
Sicherheit ist, welchen Weg sie auch immer einschlägt. Meistens wohnt sie im blauen Eremiten, im
Magierviertel.“ Peschwa ergriff seine Hand. „Ich danke Euch vielmals, ich werde alles tun, was in
meiner Macht steht!“ Er erwiderte ihren Händedruck. „Dann geht mit dem Li...was auch immer.“ Er
verbeugte sich und geleitete sie nach draußen. Sie zog ihre Handschuhe wieder an und den Hut tief
ins Gesicht. Ohne Umwege ging sie zum Blauen Eremiten. Sie war neugierig auf Lucille und fest
entschlossen, sie als Novizin anzunehmen. Ihr Mund formte sich zu einem bösen Lächeln. Es
würde...interessant werden. Im Gasthaus angekommen fragte sie ohne Umschweife nach dem
Mädchen, sie wollte keine Zeit verlieren. Sie gab sich als Verwandte aus und spielte einen Todesfall
in der Familie vor, wegen dem sie sie unbedingt sprechen müsste. Der Wirt nickte eifrig und nannte
ihr die Zimmernummer. Sie atmete noch einmal kurz durch und ging die Treppe hinauf. Das
Zimmer war ganz am Ende des Ganges. Dort angekommen verharrte sie einen weiteren Moment
und klopfte dann energisch an. Sie erhielt einige Momente keine Antwort und legte vorsichtig den
Kopf an die Tür. Von drinnen drang an schmerzerfülltes Stöhnen an ihr Ohr. Erschrocken trat sie
ein. Das Bild, das sich ihr bot, war grauenhaft. Lucille lag auf der Erde, ihr Gesicht und ihre Hände
waren über und über von frischen Verbrennungen bedeckt. Ihre Haut war kaum noch erkennbar,
man sah direkt auf das rote Fleisch darunter. Auf dem Tisch neben ihr waren ein paar Glasscherben
zu sehen, offensichtlich von einer zersprungenen Phiole. Die gelbliche Flüssigkeit hatte nicht nur
sie, sondern auch das Holz des Tisches und den Teppich vollkommen zerstört. Beides war
vollkommen schwarz, leichte Rauchwolken stiegen nach oben. Peschewa trat entsetzt zu ihr.
Vorsichtig, um nicht mit der Flüssigkeit in Berührung zu kommen, kniete sie sich hin und beugte
sich über sie. Sie wimmerte leise, offensichtlich lag sie in ihren letzten Zügen. Peschewa schloss die
Augen, Übelkeit stieg in ihr auf. „Halt durch, ich hole einen Heiler“, flüsterte sie und eilte davon.
„Lorejna komm zu mir“, dachte sie augenblicklich und rannte in Richtung Kathedrale weiter. Auch
dort fand sich augenblicklich ein Priester, der gewillt war, ihr zu helfen. Gleichzeitig mit Lorejna
kamen sie am Gasthaus an. Die beiden Heiler stürzten nach oben, um dem Mädchen zu helfen.
Peschewa folgte ihnen und kam einige Augenblicke später an. Beide knieten neben ihr und sahen
sie fassungslos an. „Es ist so furchtbar“, murmelte der Priester. Lorejna nickte nur stumm und
schloss ihr vorsichtig die Augen. Sie sah Peschewa schmerzerfüllt an. „Es war zu spät für sie“, sagte
sie leise. „Wer war sie?“ „Niemand Lorejna, niemand. Ich war nur zufällig hier.“, entgegnete
Peschewa.
Nachdem alle das Zimmer verlassen hatte, löste sich Pescheva aus dem Schatten und trat langsam
auf die Leiche zu. Sie nickte. Ihr Leiden hatte ein Ende gefunden, es war besser so. Plötzlich stand
Dorormi neben ihr und ergriff ihre Hand. „Das Schicksal hat sich erfüllt. Lass uns gehen.“ Pescheva
nickte abermals. Kurz darauf waren beide verschwunden.
Die Sonne ging über Sturmwind unter, rote Strahlen tauchten den Raum in ein warmes Licht. Kurz
bevor die letzten Strahlen verschwunden und die Dunkelheit sich breit gemacht hatte, betrat eine
alte Frau das Zimmer. Sie kniete neben dem Mädchen und küsste sanft ihre Stirn. Ihr Gesicht war
tränenüberströmt und sie schluchzte leise. „Vergib mir Lucille“, flüsterte sie. „Vergib deiner alten
Mutter.“

Trackback URL:
https://liandra.twoday.net/stories/5918198/modTrackback

Liandras Lyrikecke

Ein Sammelplatz für meine Gedichte und Kurzgeschichten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Andere Blogger

Suche

 

Aktuelle Beiträge

The last walk
She closed the long coat very carefully, no part of...
Liandra - 22. März, 22:29
Teis
Peschewa ging langsam den Kiesweg entlang zu dem Haus,...
Liandra - 3. September, 02:59
Ab sofort...
...werde ich hier alles was ich so schreibe sammeln....
Liandra - 5. August, 05:10
Kurzgeschichte Pescheva
Nachdenklich stand sie an der Brüstung und betrachtete...
Liandra - 5. August, 05:02
Kurzgeschichte Lorejna
Mit einer raschen Bewegung stand sie auf, der fließende,...
Liandra - 5. August, 05:01

Status

Online seit 7371 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 6. September, 21:51

Credits


Gedichte
Geschichten
World of Warcraft Stuff
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren