Mittwoch, 5. Oktober 2005

Schreie

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und blickte zu Boden. Der erste Schrei traf sie, überflutete ihren Geist wie eine hässliche Welle, nichts war mehr da, denn der Schrei. Er breitete sich in ihr aus, bohrte sich langsam in ihr Herz; ihr wurde kalt.
Ihre langen Haare hingen rechts und links über die Schulter, sie waren ganz zerzaust und unordentlich. Sie gaben ihr ein wenig Schutz.
Die Angst fing an, sich in ihr breit zu machen, kroch aus ihrem Bauch heraus, in ihre Brust, ihren Kopf. Es wurde noch viel kälter.
Der Schrei war in ihren Ohren wurde lauter und lauter, sie hörte nichts anderes mehr, vor ihren Augen der weiße Schafwollteppich. Er verschwamm, sie nahm ihn nicht mehr wahr. Ihr Hals schnürte sich zu, sie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Ihr Herz tat weh, einfach nur weh.
Sie wollte nicht weinen, denn das würde alles verschlimmern, doch sie hatte keine Chance. Unaufhörlich stiegen die Tränen in ihr auf, flossen aus ihren Augen und liefen über ihre Wangen.
Sie drehte den Kopf noch ein wenig mehr von der PERSON, dem Ursprung des Schreies weg. Doch ohne dass sie es verhindern konnte, fing sie an laut zu schluchzen, ihr Körper wurde unter dem Weinkrampf geschüttelt. Sie bemühte sich aufzuhören, mit aller Kraft, doch es gelang ihr nicht - es gelang ihr nie.
Die Schreie wurden mehr, wurden lauter. Sie wusste, der PERSON missfiel ihr Weinen.
Doch sie war ein Kind und verstand nicht. Sie fühlte nur. Und es fühlte sich so hässlich an.
Die vielen Schreie waren nun alles, was sie vernahm, sie konnte sonst nichts sehen, hören oder fühlen. Es war wie ein Wirbelsturm in ihrem Innern gemischt aus den Schreien, denen sie nicht entgehen konnte und ihrem Weinen.
Irgendwann war es vorbei, die PERSON hatte genug geschrien und das Kind hatte seine Lektion erhalten. Es würde jetzt brav sein und die Aufgabe, die ihm als Strafe zugedacht war, erledigen. Oder es würde in seinem Bett liegen und noch die Schmerzen der Schläge fühlen.
Sie wusste damals nicht, dass das alles nur ein paar Jahre dauern und dass die PERSON ihr Leben wieder verlassen würde. Dass sie auch glücklichere Zeiten erleben würde. Doch sogar jetzt noch ist sie wieder das kleine, hilflose Mädchen, wenn sie einen Schrei hört...

Schon damals liebte sie die Nacht, wo sie ganz alleine war und weinen durfte. In Stille. Ohne Schreie.

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